Stellungnahme zum Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetzes (IKJHG)
Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Ausgestaltung der Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz – IKJHG) vom 16.09.2024
Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Ausgestaltung der Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz – IKJHG) vom 16.09.2024
Entsprechend seinem Satzungszweck hat LERNEN FÖRDERN sich mit dem Referentenent-wurf zum Inklusiven Kinder- und Jugendhilfegesetz im Hinblick auf Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsverzögerungen und Lernbehinderungen / Förderschwerpunkt Lernen auseinan-dergesetzt.
Hier finden Sie unsere Stellungnahme als PDF (158 KB).
Im Interesse von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderungen und deren Eltern wird die Weiterentwicklung des KJHG zu einem inklusiven Kinder- und Jugendhilfegesetz ausdrücklich begrüßt. Die Zielsetzungen des Gesetzesvorhabens sind im Grundsatz nachvollziehbar. Die rechtlichen Grundlagen für ein inklusives SGB VIII werden durch den Einbezug der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX gelegt.
Probleme sind allerdings in der konkreten Umsetzung zu erwarten. Sorgen bereitet dem LERNEN FÖRDERN-Bundesverband insbesondere die Voraussetzung wesentliche Behinderung, um notwendige Leistungen zu erhalten! Da Kriterien zur Ermittlung der Wesentlichkeit hinsichtlich der Beeinträchtigung der Teilhabe fehlen, ist bedauerlicherweise zu erwarten, dass in der Praxis auch weiterhin vor allem medizinische Diagnosen und Kriterien der Beeinträchtigung der Teilhabe zugrunde gelegt werden und Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und Lernbehinderungen auch künftig nicht von Anfang an die Unterstützung bekommen werden, die sie zum Ausgleich ihrer Beeinträchtigung der Teilhabe dringend benötigen. Dies betrifft insbesondere Kinder, bei denen (noch) keine medizinische Diagnose vorliegt. Dadurch wird z.B. frühzeitige Unterstützung in der Tageseinrichtung und damit Teilhabe an Bildung verzögert oder sogar verhindert.
Da das inklusive SGB VIII sich hinsichtlich der Anspruchsgrundlagen an § 99 SGB IX orientiert und die Leistungsformen des SGB IX in Bezug auf Leistungen der Eingliederungshilfe im SGB VIII übernommen werden, ist die Definition des Personenkreises (Eingliederungshilfever-ordnung) für diesen Personenkreis entscheidend. Gerade bei Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderungen, bei denen vielfach keine medizinischen Diagnosen vorliegen, muss dieser Aspekt besondere Berücksichtigung finden. LERNEN FÖRDERN gibt zu bedenken, dass durch die nach diesem Referentenentwurf vorgesehenen Entscheidungsgrundlagen weiterhin die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderungen in der Gesellschaft behindert sein wird.
Weiterhin erscheint fraglich, ob die komplexen strukturellen Veränderungen bei den Leistungsträgern und Leistungserbringern rechtzeitig erfolgen können, zumal die Teilhabeplanung „frühzeitig, in der Regel ein Jahr vor dem voraussichtlichen Zuständigkeitswechsel, vom Träger der Jugendhilfe einzuleiten“ ist (§ 36d Abs. 2). In Anbetracht der Anzahl der bisherigen Leistungsberechtigten/Leistungsempfänger dürfte das eine enorme Herausforderung sein. Die Strukturen müssen dafür bereits geschaffen sein, die Verfahrenswege geklärt und die zuständigen Mitarbeiter und die Verfahrenslotsen entsprechend qualifiziert sein. Es wird darauf ankommen, wie die Leistungsträger und Leistungserbringer es schaffen, die erforderlichen inklusiven Strukturen und Verfahrensabläufe aufzubauen und ihr Personal entsprechend zu qualifizieren. Aufgabe der Länder ist es, Steuerungsprozesse rechtzeitig einzuleiten, sonst besteht die Gefahr, dass nicht nur bundesweit, sondern auch innerhalb der Länder unterschiedliche Strukturen und Verfahrensabläufe der Leistungen zur Teilhabe entstehen.
Auch darf die inklusive Ausrichtung der Leistungserbringer auf keinen Fall dazu führen, dass jede Einrichtung alles können muss – Spezialisierungen und Schwerpunktsetzungen müssen weiterhin möglich sein.
§ 10 Verfahrenslotse
Die Etablierung von Verfahrenslotsen zur Unterstützung bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung von Leistungen zur Teilhabe ist ein bedeutsames Angebot für Leistungsberechtigte! Damit Leistungen in Anspruch genommen werden können, sind ein niederschwelliger Zugang zu den Verfahrenslotsen, umfassende Informationen über Möglichkeiten der Unterstützung, ggf. einschließlich Einbezug erzieherischer Hilfen, zu gewährleisten. Für einen zielführenden Einsatz ist außerdem eine entsprechende Qualifizierung des Personals Voraussetzung.
§ 27 Leistungen zur Entwicklung, zur Erziehung und zur Teilhabe
LERNEN FÖRDERN begrüßt ausdrücklich, dass Kinder oder Jugendliche mit Behinderungen, deren Teilhabe in der Gesellschaft eingeschränkt ist oder die von einer solchen Behinderung bedroht sind, einen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe haben.
Zur Umsetzung des bestehenden Anspruchs sind notwendige Kooperationen zwischen allen für die Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen verantwortlichen Partnern, wie Jugendhilfe, Schule, Sorgeberechtigte, vertraglich zu vereinbaren.
Leistungen können als Gruppenangebote erbracht werden, sofern diese dem individuellen Bedarf nicht entgegenstehen.
§ 35 Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen
§ 35d Leistungen zur Teilhabe an Bildung
Die Ausführungen zur „Teilhabe an Bildung“ sind insgesamt zu konkretisieren. Der Referentenentwurf enthält keine Aussage zur Zuständigkeit und Verantwortung der Länder.
LERNEN FÖRDERN erwartet, dass alle an Bildung Beteiligten im Teilhabeverfahren zusammenarbeiten, damit „Leistungen wie aus einer Hand“ bundesweit mit der erforderlichen Fachlichkeit gewährleistet werden können.
Obwohl in § 35d Abs. 1 Satz 1 Leistungen zur Teilhabe an Bildung „Hilfen zu einer Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu“ genannt werden, wird die frühkindliche Bildung in den darauffolgenden Aussagen zur Hilfe- und Leistungsplanung nicht aufgeführt, genannt wird nur die schulische Bildung. Frühkindliche Bildung ist existenziell für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und (drohender) Behinderung. Dieser Passus ist deshalb zwingend zu ergänzen.
§ 35c Früherkennung und Frühförderung
Positiv festgestellt wird, dass gem. Abs. 1 die Regelungen in §§ 42 Abs. 2 Nummer 2 und 46 SGB IX grundsätzlich bestehen bleiben und der Förder- und Behandlungsplan laut Verordnung der Interdisziplinären Frühförderung weiterhin gültig ist und nicht die Hilfe- und Leistungsplanung des SGB VIII!
Landesregelungen werden im Referentenentwurf nicht angesprochen.
Der LERNEN FÖRDERN Landesverband Baden-Württemberg setzt sich für den Erhalt der sonderpädagogischen Frühförderung in Baden-Württemberg ein, die sich in der Vergangenheit bestens bewährt hat.
Unklar ist auch in Abs. 2 Satz 2 die Aussage: „In Verbindung mit schulvorbereitenden Maß-nahmen der Schulträger werden die Leistungen ebenfalls als Komplexleistung erbracht.“ Leistungen in „schulvorbereitenden Einrichtungen“ – wie die Schulkindergärten in Baden-Württemberg – waren seither keine Komplexleistungen. Kinder, die einen Schulkindergarten besuchen (bei privaten Trägern über die Eingliederungshilfe nach SGB IX oder § 35a SGB VIII finanziert), konnten bei entsprechendem Bedarf auch Maßnahmen der Frühförderung in Anspruch nehmen. Der Erhalt dieser Möglichkeit ist LERNEN FÖRDERN ein Anliegen.
Hinsichtlich rein erzieherischer Hilfen wird es eine Herausforderung werden, die erzieherischen Hilfen auch für Kinder mit (drohender) Behinderung und ihre Familien zu öffnen und entsprechend zu gestalten. Zu beachten wird sein, dass die aufgrund der Behinderung eines Kindes oder Jugendlichen erforderlichen familienunterstützenden Maßnahmen nicht mit Maßnahmen zur Erziehungshilfe verwechselt werden. Vergleichbar gilt dies für die Internatsunterbringung aus schulischen Gründen.
§ 36b Hilfe- und Leistungsplankonferenz
„Den Vorschlag auf Durchführung einer Hilfe- und Leistungsplankonferenz kann der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ablehnen, wenn der maßgebliche Sachverhalt schriftlich ermittelt werden kann […]“.
Dieser Passus darf auf keinen Fall dazu führen, dass die schriftliche Form vorschnell gewählt wird und aufgrund nur begrenzter bzw. noch nicht vorhandener schriftlicher Unterlagen, beispielsweise aufgrund von Wartezeiten auf Termine im SPZ, wichtige Aspekte nicht zum Tragen kommen und daher ggf. Leistungen abgelehnt oder nicht bedarfsgerechte Leistungen bewilligt werden.
§ 36c Steuerungsverantwortung, Selbstbeschaffung
(1) „Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe trägt die Kosten der Hilfe oder Leistung grundsätz-lich nur dann, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfe- und Leistungsplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird; dies gilt auch in den Fällen, in denen Eltern durch das Familiengericht oder Jugendliche und junge Volljährige durch den Jugendrichter zur Inanspruchnahme von Hilfen verpflichtet werden.“
Offen ist die Frage, wer in diesen Fällen die Durchführung einer Hilfeplan- und Leistungskonferenz initiiert.
§ 36d Zusammenarbeit beim Zuständigkeitsübergang
(2) „Die Teilhabeplanung ist frühzeitig, in der Regel ein Jahr vor dem voraussichtlichen Zuständigkeitswechsel, vom Träger der Jugendhilfe einzuleiten.“
Dieser Passus setzt voraus, dass die Strukturen bereits geschaffen sind, die Verfahrenswege geklärt und die zuständigen Mitarbeiter und Verfahrenslotsen entsprechend qualifiziert sind.
§ 40 Zulässigkeit von Auslandsmaßnahmen
Die in diesem Bereich vorgesehenen Regelungen sorgen für Qualität und Verlässlichkeit!
Der LERNEN FÖRDERN-Bundesverband legt großen Wert auf ein Inklusives Kinder- und Jugendhilfegesetz, das Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderungen gerecht werden kann und ihnen Aktivität und Teilhabe in der Gesellschaft ermöglicht. Wir bitten deshalb dringend um Berücksichtigung unserer in dieser Stellungnahme aufgeführten Bemerkungen und Bedenken und danken Ihnen dafür.