Bildung von Kindern mit Lernbehinderungen
Stellungnahme
Stellungnahme
Inklusive Bildung stärken! Unter diesem Motto fordern die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern in ihrem Appell vom 9. Dezember 2022 dazu auf, die inklusive schulische Bildung zu stärken. LERNEN FÖRDERN unterstützt diese Initiative nachhaltig, sieht aber die Notwendigkeit eines differenzierten Umgangs mit dem Thema der schulischen Inklusion, da die Wege zur gesellschaftlichen Teilhabe (bis ins Erwachsenenalter) vielfältig sein müssen, um individuell passgenau sein zu können.
UN-Behindertenrechtskonvention
Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) verpflichtet unter anderem dazu, allen Menschen mit Behinderung ungehinderten Zugang zum allgemeinen Bildungswesen zu ermöglichen – zu Recht, denn in vielen Ländern sind behinderte Kinder bislang vom öffentlichen Schulbesuch überhaupt ausgeschlossen. Insofern zielt die UN-BRK nicht primär auf Deutschland.
Deutschlands Förderschulen sind derjenige Teil des allgemeinbildenden Schulsystems, der gesellschaftliche Teilhabe durch spezifische Unterstützung herbeiführen soll. Solche besonderen Maßnahmen gelten laut Konvention (BRK, Art. 5, Abs. 4) nicht als Diskriminierung. Weiterhin soll bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, das Wohl des einzelnen Kindes vorrangig berücksichtigt werden (BRK, Art. 7, Abs. 2). Nirgendwo wird in der BRK gefordert, Sonder- und Förderschulen oder -klassen abzuschaffen. Auch gelten weiterhin die Art. 5 und 18 der UN-Kinderrechtskonvention zur elterlichen Verantwortung und zum Erziehungsrecht.
Bildungsstatistik der Kultusministerkonferenz (KMK)
Von 582.400 Schüler:innen, die im Jahr 2020 sonderpädagogisch gefördert wurden, besuchten etwa 56 Prozent eine Förderschule und etwa 44 Prozent eine allgemeine Schule. Dabei ist der Anteil der Schüler:innen mit sonderpädagogischer Förderung bezogen auf alle Schüler:innen in den letzten Jahren insgesamt gestiegen, von 6,3 Prozent in 2011 auf 7,7 Prozent in 2020. Das bedeutet auch, dass der Anteil der Schüler/innen, die eine Förderschule besuchen, seit Ratifizierung der UN-BRK im Jahr 2009 nur wenig abgenommen hat. Die Förderschulbesuchsrelation – so das adäquate Maß – lag im Jahr 2020 bei 4,3 Prozent gegenüber 4,8 Prozent im Jahr 2009. Genau ein Drittel davon (33,3 Prozent) besuchte Klassen mit dem Förderschwerpunkt Lernen (KMK, Dokumentation Nr. 231).
Diese Zahlen sprechen unseres Erachtens vor allem für die Tatsache, dass erziehungsberechtigte Eltern das schulische Wohl ihrer Kinder aufgrund einer informierten Entscheidung mehrheitlich Förderschulen anvertrauten. Und das, obwohl mittlerweile nicht wenige dieser Spezialschulen gerade in Ländern abgebaut wurden, die in Schulleistungserhebungen wie PISA, dem IQB-Bildungstrend oder der Kindergesundheitsstudie Kiggs des Robert Koch-Instituts weit unterdurchschnittlich rangieren.
Bildungspolitik allein aufgrund ideologischer Prioritäten ohne entwicklungspsychologische oder bildungsethische Begründungen zu betreiben, ist ausgesprochen strittig, zumal wissenschaftliche Studien zum Gemeinsamen Lernen, die meistens nur den Grundschulbereich betreffen, methodischen Einschränkungen unterliegen und widersprüchliche Ergebnisse aufweisen. Einmal waren nicht repräsentative „Leuchtturm“-Ressourcen im Spiel, ein anderes Mal nur „leichtere Fälle“ einbezogen (Bielefelder Längsschnittstudie BiLieF), dann fehlte eine Kontrollgruppe (Rügener Inklusionsmodell RIM) oder sie war untauglich (Blanck-Studie).
Hauptschulabschluss
Der förderschulisch oft fehlende Hauptschulabschluss ist inzwischen kein durchgängig tragfähiges Argument mehr, auf das sich Arbeitgeber uneingeschränkt verlassen, da er vor allem in Deutsch und Mathematik seinen verwertbaren schulischen Fertigkeiten nach über verschiedene Schulen und vor allem über verschiedene Bundesländer hinweg kein vertrauenswürdiges Kriterium mehr ist (z.B. van Buer, 2004, 2005). Um es womöglich etwas zu überzeichnen: Der Förderschulabschluss dürfte seinem realen Leistungsgehalt manchen Hauptschulabschlüssen sicher in etwa gleich kommen. Zudem kann er bei Bedarf im sog. berufsvorbereitenden Übergangssystem nachgeholt werden.
Kriterien erfolgversprechender schulischer Inklusion
Schulische Inklusion steht und fällt mit belastbaren personellen und sächlichen Inklusionsrealitäten im unspektakulären Schulalltag, die nicht auf ein Sparmodell hinauslaufen. Unseres Erachtens sind – erfahrungsbasiert – bestimmte Mindestkriterien für eine „Transformation“ durchgängig nötig, unter denen inklusiver Unterricht mehrheitlich gelingen könnte. Ansonsten sind die Nachteile für „lediglich drin sitzende“ Betroffene erheblich größer als mögliche Vorteile.
Individualisierter Unterricht wird nicht zuletzt auch dadurch sinnvoll, dass Anforderungen am mentalen und nicht am chronologischen Entwicklungsalter ausgerichtet sowie vereinfacht werden (Bruns, 2021, II).
Mittlerweile ist angesichts solcher Kriterien eine kritische Bewertung der bislang geübten inklusiven Alltagspraxis – nicht die von (Grundschul-) Modellversuchen mit Bestbedingungen – durch Lehrkräfte und Eltern über verschiedene Schulstufen und -typen hinweg unübersehbar, z.B. in den Forsa-Umfragen des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE, seit 2016).
Schulische Inklusion von Schüler:innen mit Lernbehinderung
Schüler:innen mit Lernbehinderung, die schulisch immer noch größte und heterogenste Gruppe unter jungen Menschen mit Behinderung, haben ein bedeutsames Handicap: Man sieht ihnen ihre mentalen und oft auch sozialen Beeinträchtigungen nicht an. Da scheint es ein Leichtes, sie regulär und konfliktarm zu beschulen, könnte man denken. Aber, es sind junge Menschen, deren Lern- und Leistungsrückstände in der Regel die Lehrinhalte von zwei und mehr Schuljahren umfassen. Das auszublenden, wäre geradezu unverantwortlich. Inklusive Unterrichtskonzepte der Regelschule müssten dieser Tatsache und methodisch-didaktisch ihren Verhaltensbesonderheiten Rechnung tragen. Dazu gehören (mit individuellen Mustern) eine deutliche Verlangsamung, eher fragmentarisch-zusammenhangloses Behalten, Probleme mit sprachgestütztem Schlussfolgern, Planungs- und Organisationsschwächen, schwieriger Lerntransfer, starke Personenabhängigkeit und Bindungsunsicherheit sowie wenig entwickelte personale, soziale und fachlich-methodische Schlüsselfertigkeiten.
Die Bildungsforscher Felicitas Thiel (Freie Universität Berlin) und Michael Becker-Mrotzek (Universität Köln) stellten am 9. Dezember 2022 für die Kultusministerkonferenz (KMK) in Berlin die Zusammenfassung ihres Gutachtens auf dem Hintergrund des aktuellen IQB-Bildungstrends und der Kindergesundheitsstudie Kiggs vor. Darin heißt es unter anderem, Grundschulen gelinge es in vielen Fällen nicht, grundlegende Kompetenzen an alle Kinder zu vermitteln. Wenn das mit Regelschüler:innen schon nicht durchgehend möglich ist, wie sieht es dann angesichts der schwierigen Personalversorgung erst bei inkludierten Schüler:innen mit Lernbehinderung aus?
Mechthild Ziegler, Bundesvorsitzende, sagt dazu: Unabhängig vom Lernort hat jedes Kind ein Recht auf Bildung. Bildung, die sich an seinen individuellen Leistungsmöglichkeiten orientiert und aktive Teilhabe in der Gemeinschaft ermöglicht. Manche Kinder sind für die Sicherung ihrer Teilhabe und die Ausbildung ihrer Kompetenzen nach wie vor auf den Lernort Förderschule / Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Förderschwerpunkt Lernen angewiesen. Ihnen diesen Lernort vorzuenthalten, ist nach der Erfahrung des Verbandes LERNEN FÖRDERN für keine Lebensphase zielführend.
Prof. Karl-Heinz Eser
Wissenschaftlicher Beirat